Lass die Vergangenheit ruhen!

Weinende Frau / crying woman

Wohin guckst du, wenn du auf dein Leben schaust?

Spür grad mal kurz nach … ernsthaft! Wenn du die Gedanken treiben lässt und schaust, wie’s grad in deinem Leben aussiehst - wohin guckst du?

Schaust du eher in die Vergangenheit? Tauchen Bilder auf von Dingen, die passiert sind?

Bist du im Moment, und voll bei dem was du gerade machst oder mit wem du gerade bist? Was passiert, wenn dich dann jemand auffordert, einen Schritt zurück zu machen, und zu gucken? Hast du’s überhaupt gemacht? ;)

Oder schaust du in die Zukunft, und denkst entweder freudig an das, was noch kommt, oder etwas besorgt an das, was du noch alles schaffen musst?

Alle drei Varianten haben ihre Ursprünge und Ursachen, und alle drei Varianten sind unterschiedlich .. hilfreich.

Blickst du in die Zukunft?

In die Zukunft schauen ist ganz cool wenn man das planvoll angeht - habe ich einen ganzen Blogpost zu gemacht - oder wenn man sich auf etwas freut. Es ist weniger cool wenn die Planung nicht realistisch war oder ist und die Überforderung jetzt schon vorprogrammiert ist. Sie wirkt sich dann bereits jetzt schon auf das Heute aus! Nachsteuern oder auch mal die eigenen Limitierungen eingestehen kann da Wunder wirken, und vor allen Dingen das Jetzt entlasten.

Blick du ins Heute?

Im Hier und Jetzt zu sein ist eigentlich das Nonplusultra - da sind sich auch die meisten Philosophien und Religionen überraschend einig, und alle Meditationen und andere Arten von Achtsamkeitsübungen zielen für gewöhnlich darauf, dich im Hier und Jetzt ankommen, und “sein” zu lassen.

Aber was “sein”? Wie “sein”? Wer “sein”?

Cool, entspannt, der absolute Held, die absolute Heldin?

Nein. Einfach “nur” sein.

Punkt.

Nichts weiter.

Wenn du jetzt mal einen Moment inne hältst (ja! schon wieder!), und schaust, was, wer und wer du gerade bist - was findest du dann in dir? Welches Gefühl bewegt dich? Milde Irritation was der Typ der da schreibt schon wieder von dir will vielleicht? Oder bist du doch schon (!) bei dir gelandet, und etwas, das gerade in deinem Leben übermächtige (!) Bedeutung hat, hat sich in den Vordergrund gedrängt, und du hast schnell weiter gelesen?

Eigentlich egal. Der Idealfall, der sich mit ein bischen Übung einstellt, lässt sich mit einem Testbild vergleichen - Innere Leere, vielleicht ein mentales “Hm!”, ein kurzer Rundumblick in sich selbst, und weiter im Text.

Gar nicht so einfach.

Warum eigentlich nicht?

Nicht zuletzt, weil wir alle total viel Vergangenheit, Erfahrung, Prägung, und damit nicht zuletzt mehr oder weniger eingefahrene Verhaltensmuster haben, die uns bis ins hier und heute am Leben gehalten haben.

Nicht alle davon mögen tatsächlich richtig, wichtig, oder auch nur hilfreich sein - aber ob wir das wissen (oder auch nur wissen können) ist meistens eine Frage, die wir uns nicht wirklich immer stellen.

Zumindest hab ich das nicht immer gemacht - und eigentlich kann ich immer nur von mir sprechen, und nur grobe Mutmaßungen anstellen, was bei euch so los ist.

Blick in die Vergangenheit meiner Familie

Also mal ein kleiner Exkurs in meine Vergangenheit, und ein bischen auch die meiner Vorfahren (jenseits der Elterngeneration lebt niemand mehr), so wie ich sie verstehe, und so wie es sich für mich stimmig anfühlt - kann auch ganz anders gewesen sein, spielt aber für die emotionale Bedeutung für mich allerdings nicht die geringste Rolle. (Ein wichtiger Punkt, wenn du auf deine eigene Vergangenheit schaust!)

Meine (Ur-)Grosseltern

Mein Ur-Großeltern- und Großeltern-generation hat (mindestens) den zweiten Weltkrieg selbst miterlebt - und letztlich auch überlebt - wenn auch alles andere als unbeschadet. Links und Rechts sind Freunde, direkte Familie und andere Verwandte ums Leben gekommen oder auch nur auf Nimmerwiedersehn verschollen.

Auf der einen Seite der Familie war der Dienst an der Waffe verpflichtend, auf der anderen Seite die Flucht aus Ostpreußen bzw. Oberschlesien über-lebensnotwendig.

Die emotionalen Kämpfe, Gewissenskonflikte ob der angesagten gesellschaftlichen Gesinnung oder des eigenen Handelns und dessen Folgen kann man sich nur vorstellen, und werden wohl nie vollständig aufgearbeitet werden können - eine Idee und Ansätze gibt hier das Therapie- und Therapeuten-Buch Kriegserbe in der Seele.

Letztlich hat bei uns in der Familie jeder seinen persönlichen Verdrängungsmechanismus gefunden - teils mehr, teils weniger effektiv; teils mit mehr, teils mit weniger starken Auswirkungen für das eigene Umfeld.

Der Arbeitstitel des Buches meines Großvaters fasst ganz gut zusammen, wie es in den Herzen der Betroffenen ausgehen haben mag: “In der Heimat gibt’s kein Wiedersehn”.

Krass.

Meine Elterngeneration

Zwischenergebnis dieses Kriegsschauspiels ist dann nun meine Elterngeneration (geboren so ab 1945), welche teils noch in Flüchtlingslagern aufwuchs, teils als eins von wenigen Kindern aufwuchs - in einem Verliererland, welches sich selbst die meisten Männer genommen hat.

Die verbliebenen Männer brachten ein .. sagen wir’s mal vorsichtiges .. schwieriges, angeknackstes Weltbild mit; und waren selbst vermutlich nur bedingt orientiert.

Wer oder was gibt dann Halt? Wie fasst man selbst als heranwachsendes Kind Halt? Auf wen und wessen emotionalen Ausdruck kann man sich verlassen? Welche Erwartungen darf man selbst haben? Welche Erwartungen dürfen realistisch an einen gestellt werden? Für welchen Mangel - auch emotional - ist man tatsächlich selbst verantwortlich zu machen? Von sich selbst oder von anderen?

Fakt ist, dass dies niemand unbelastet als Kind durchlebt haben kann.

Manch eine und manch einer mag von der Persönlichkeitsstruktur her gut in der Lage gewesen sein, die entsprechenden Konflikte zu kanalisieren - wenn nicht sogar zu integrieren -, während anderen - zumindest damals - keine andere Möglichkeit gegeben war, als sich gegenüber den eigenen Emotionen und auch dem Umfeld hart zu machen, teils auch noch Jahre später. Wieder anderen gelang auch dies nicht, und die Konflikte richteten sich gegen sich selbst.

Aus all dem entsprang dann nun meine Generation - 1975 und später -; mit der Aufgabe, einerseits mit dieser Vergangenheit klar zu kommen, und andererseits die erlebten Muster nicht an die eigenen Kinder weiter zu geben.

Was tun?

Zuerst einmal finde ich es ganz wichtig anzuerkennen, dass da damals ganz grosse Scheisse gelaufen ist. Nicht nur im Äußeren - Gewalt und Krieg sind immer schrecklich - sondern auch und gerade im Inneren - Entschmenschlichung anderer und auch seiner selbst hat immer ganz ganz gruselige Folgen, die wir meiner Meinung nach bis heute nicht vollständig verstanden haben.

Als Nächstes muss man anerkennen dass niemand dieser Situation gewachsen gewesen sein kann, und sämtliche Korrekturmechanismen, geistigen Heiler, moralischen Instanzen etc etc schon in den Vorkriegsjahren komplett verloren gegangen sind, wenn nicht sogar die eigene Korruption zugelassen haben.

Meine Generation

Das Resultat sind Kinder und junge Erwachsene, die ein kaputtes Sozialverhalten von kaputten Erwachsenen gelernt haben, um damit in einem kaputten Land aufzuwachsen, um das Beste daraus zu machen.

Manche Wunden konnten sich schließen; andere haben hässliche Narben auf schönen Seelen hinterlassen, wieder andere mussten bereits zu Grabe getragen werden; wiederum andere Wunden sind noch immer nicht verheilt …

Die Vergangenheit ruhen lassen?

… nun … was tun?

Klingt ja nicht so, als würde ich die Vergangenheit ruhen lassen?

Doch.

Jedesmal, wenn wir uns an etwas erinnern, verändern wir dadurch diese Erinnerung .. völlig egal was das ist. Ob’s das Frühstück heute morgen war, eine Beleidigung, die einem vor Jahrzehnten widerfahren ist, oder auch nur die PIN der EC-Karte. Einfach, weil das Gehirn so funktioniert.

Jedes Mal, wenn wir uns er-innern ver-inner-lichen wir die Erinnerung neu. Die Intention, mit der wir eine Erinnerung abrufen, und die Reaktion, die wir uns darauf gestatten, ist das, was an dieser Erinnerung dadurch haften bleibt.

Alles, was ich oben geschrieben habe, habe ich weitgehend ohne intensive Emotion geschrieben, weder in meinem Ausdruck, noch in meinem eigenen Empfinden.

Ich war dabei - wortwörtlich - ruhig, ohne jedoch die Erinnerung zu schmälern, ihr Bedeutung, oder persönlichen Bezug zu nehmen. Auch habe ich mich nicht für die Emotion taub gemacht, sondern die zutiefst menschlichen Ursachen und Verhaltensmuster benannt und auf eine Art auch bedauert.

Ist auch echt schade. Ich hätte es diesen und allen Menschen in dieser Zeit gegönnt, ohne dieses Leid und diese Schmerzen auszukommen, und ich hätte gerne darauf verzichtet, in diesem meinem eigenen Leben mit diesem Schmerz in Berührung zu kommen, welcher - auch für mich - auf viele verschiedenen Arten und Weisen erlebt werden musste.

Ich kann dennoch ruhig auf diese Vergangenheit schauen.

Die Vergangenheit lebendig lassen?

Was heißt dies jetzt für jemanden, der selbst ein Opfer von Beleidigungen, Missbrauch, Krieg oder anderer körperlicher oder emotionale Gewalt wurde?

Nun - um mal ein etwas leichteres Beispiel zu nehmen:

Vielleicht kannst du dich daran erinnern, dass dich mal jemand “Blödmann” (oder “Blödfrau”, tut nichts zur Sache) genannt hat, und wie dich das damals verletzt hat.

Falls du das noch nicht hinter dir gelassen hast, wird es dir relativ einfach fallen, dich in das Gefühl von damals rein zu steigern, es wieder zu beleben, und ganz genau spüren zu können, wo es in deinem Körper wütet.

Dieser Teil deiner Vergangenheit ist dann mit Sicherheit nicht “ruhig”, und wird es auch beim nächsten Mal - wenn du dich daran erinnerst oder von etwas daran erinnert wirst - nicht sein.

Jede Entscheidung oder jedes Gespräch welches unter Einfluss dieser Erinnerung stattfindet, wird davon vergiftet sein.

Nur weil jemand es einfach nicht besser wusste oder nicht besser konnte, als dich “Blödmann” zu nennen. Jahre oder sogar Jahrzehnte später.

Die Vergangenheit ruhen lassen!

Also, nochmal - was tun?

Mach dir bewusst, dass du die Erinnerung in dir trägst, dass dich jemand “Blödmann” genannt hast. Ganz neutral. Diese Erinnerung steht erst einmal für sich. Du kannst nicht wissen ob und wieso es für diese Person richtig und wichtig war, dich “Blödmann” zu nennen, und eigentlich geht es dich auch nichts mehr an.

Was daraus zu lernen war, hast du hoffentlich daraus gelernt, und die andere Person hoffentlich auch.

HEUTE kann dir diese Erinnerung dienen anhand ihrer zu Lernen, sie loszulassen, und ihr damit ihre übersteigerte Bedeutung zu nehmen.

Also, erinnere dich - an “Blödmann”, oder was auch immer, und daran, dass es dir DAMALS weh getan hat, und dass dieses Gefühl DAMALS für dich richtig und wichtig war. Macht dieses Gefühl zu einer nüchternen Erinnerung daran, dass du damals dieses Gefühl hattest, und nimm - nur noch - diese Erinnerung mit ins heute.

Das Gefühl darf verrauchen, und beim nächsten Mal, wenn du dich erinnerst, ruht es.

Mehr und mehr.

– count 15.12.2019, 23:13, Berlin

P.S: dein Unterbewusstsein weiss, wie es diese Art von Bearbeitung deiner Vergangenheit machen und sogar generalisieren kann, wenn du’s einmal richtig angefangen hast; langfristig kannst du komplett frei von negativen Einfluss deiner Vergangenheit sein - und dein gestern beeinflusst nicht mehr dein Heute und schon gar nicht dein Morgen! .. Viel Erfolg dabei! :)

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